Du lebst dein Leben, so wie du es immer getan hast. Vielleicht war es schon immer ein bisschen anstrengender als für andere. Vielleicht hast du dich oft gefragt, warum Dinge, die für andere Menschen so einfach scheinen – Smalltalk, Lärm, plötzliche Veränderungen – für dich eine Herausforderung sind.
Und dann kommt der Moment: Du erhältst die Diagnose Autismus.
Vielleicht hast du es geahnt, vielleicht kam es völlig überraschend. Vielleicht ist es eine Erleichterung, endlich eine Erklärung zu haben – oder vielleicht bricht eine Identitätskrise über dich herein.
Bin ich jetzt anders? War ich es schon immer? Und was bedeutet das für mein Leben?
Die plötzliche Konfrontation mit der eigenen Geschichte
Eine späte Autismus-Diagnose bedeutet oft, dass man rückblickend das eigene Leben mit einem völlig neuen Blick betrachtet. Plötzlich macht so vieles Sinn:
- Warum soziale Interaktionen oft kräftezehrend waren.
- Warum du dich nach intensiven Tagen tagelang zurückziehen musstest.
- Warum du dich so oft „anders“ oder „falsch“ gefühlt hast.
- Warum die Erwartungen der Gesellschaft dich oft überfordert haben.
Die Diagnose kann wie ein fehlendes Puzzlestück sein – aber sie kann auch ein Gefühl der Entfremdung auslösen. War ich mein ganzes Leben lang jemand anderes? Habe ich mich selbst je wirklich gekannt?
Viele Betroffene berichten, dass sie sich plötzlich von sich selbst distanziert fühlen. Dinge, die vorher selbstverständlich waren, stehen plötzlich unter einem neuen Licht. War dieses ständige Lächeln wirklich ich – oder nur Masking? Sind meine Interessen meine eigenen – oder habe ich sie mir nur angewöhnt, um dazuzugehören?
Zwischen Erleichterung und Identitätsverlust
Die Diagnose bringt oft zwei gegensätzliche Emotionen mit sich:
✅ Erleichterung: Endlich eine Erklärung, endlich Klarheit. Ein Beweis dafür, dass man nicht einfach „empfindlich“, „faul“ oder „komisch“ ist, sondern dass das eigene Gehirn einfach anders funktioniert.
❌ Identitätsverlust: Die Frage, wer man wirklich ist. Viele haben über Jahre oder Jahrzehnte Masking betrieben – sich angepasst, um als „normal“ wahrgenommen zu werden. Jetzt, mit der Diagnose, wird vielen bewusst, wie sehr sie sich verstellt haben.
Und genau hier beginnt die große Frage:
Wenn ich nicht das bin, was die Welt von mir erwartet hat – wer bin ich dann?
Was bedeutet „ich selbst sein“ überhaupt?
Es kann sich anfühlen, als würde man sich völlig neu kennenlernen müssen. Manche fühlen sich in der eigenen Haut fremd. Es braucht Zeit, um herauszufinden:
- Welche Verhaltensweisen sind wirklich „ich“ – und welche sind nur Anpassung?
- Welche Reize, Menschen oder Situationen tun mir wirklich gut – und welche habe ich nur ertragen, weil ich dachte, ich müsste es?
- Welche Interessen sind wirklich meine – und welche habe ich nur übernommen, um in eine Rolle zu passen?
Diese Selbstfindungsreise kann beängstigend sein – aber auch eine große Chance.
Denn mit der Diagnose kommt auch die Möglichkeit, endlich ein Leben zu führen, das sich gut anfühlt. Ohne Masken. Ohne permanente Anpassung.
Der Weg zu einem neuen Selbstverständnis
Der wichtigste Schritt ist: Geduld mit dir selbst haben.
Du musst nicht sofort wissen, wer du bist. Dein Leben hat sich nicht von einem Tag auf den anderen verändert – es war schon immer dein Leben. Die Diagnose gibt dir lediglich die Möglichkeit, dich selbst besser zu verstehen.
Einige Dinge, die helfen können:
📝 Selbstreflexion: Notiere dir Situationen, in denen du dich wirklich wohlgefühlt hast – und solche, in denen du dich verstellt hast.
🛑 Grenzen setzen: Es ist okay, Dinge abzulehnen, die dir nicht guttun.
🌿 Routinen anpassen: Was kannst du in deinem Alltag verändern, um dich wohler zu fühlen?
💬 Austausch mit anderen Autist:innen: Zu wissen, dass man nicht allein ist, kann unglaublich heilsam sein.
👤 Therapie oder Coaching: Ein Profi kann dir helfen, diesen Weg zu begleiten.
Fazit: Du bist nicht plötzlich ein anderer Mensch – du bist endlich du selbst
Die Diagnose verändert nicht, wer du bist – sie gibt dir die Erlaubnis, du selbst zu sein. Vielleicht zum ersten Mal in deinem Leben, ohne Druck, ohne Erwartungen, ohne Masken.
Ja, es kann sich anfühlen, als würde man sich in einer Identitätskrise verlieren. Aber vielleicht ist es auch der Moment, in dem du dich das erste Mal wirklich findest.